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M.Sc.Annkathrin Sinning
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Experimentelle und theoretische Untersuchungen zu den Einflüssen aus dem statischen System und der Belastungsart
Veranlassung und Zielsetzung
Stahlbetonplatten stellen häufig einen großen Anteil des Gesamtbetonvolumens einer Tragstruktur dar. Da sie, anders als Stahlbetonbalken, i.d.R. ohne Querkraftbewehrung ausgeführt werden dürfen, wird aus baupraktischer Sicht angestrebt, auf den Einbau einer Querkraftbewehrung zu verzichten. Dazu kann es erforderlich sein, die Deckenstärke zu erhöhen. Ein größeres erforderliches Betonvolumen und höhere Rohbaukosten sind die Folge. Die Biegeschubbemessung nach Eurocode 2 (EC 2) für Bauteile ohne Querkraftbewehrung erfolgt aktuell anhand semi-empirischer Bemessungsgleichungen. Diese wurden an einer Datenbank mit Querkraftversuchen an überwiegend gelenkig gelagerten Einfeldträgern unter Einzellasten kalibriert. In der Praxis jedoch sind Stahlbetonplatten in der Regel an den Rändern durch benachbarte Plattenfelder in ihrer Verformung behindert. Außerdem werden sie in den meisten Fällen durch eine verteilte Belastung beansprucht. Die Vernachlässigung tragfähigkeitssteigernder Einflüsse aus dem statischen System und der Art der Belastung führt zu einer unwirtschaftlichen Bemessung.
Aus der Praxis ist bekannt, dass Stahlbetondeckenplatten im Bestand mit geringen Deckenstärken häufig deutlich tragfähiger sind als normativ bestimmt. Eine mögliche Begründung ist die Ausbildung eines Druckbogens (engl. Compressive Membrane Action (CMA)), der sich im Bauteil durch die seitliche Rotations- und Dehnungsbehinderung einstellen kann. Der Einfluss dieser Druckmembranspannungen auf die Querkrafttragfähigkeit wurde bislang nicht erforscht.
Abbildung 1: Prinzip der Compressive Membrane Action
Eine Berücksichtigung der Einflüsse aus der Belastungsart und dem statischen System, insbesondere der Druckmembranwirkung, in der Querkraftbemessung kann zu einer ressourcenschonenderen und wirtschaftlicheren Bemessung und Bauausführung von Stahlbetonplatten führen.
Experimentelle Untersuchungen
Zur Erweiterung bestehender Bemessungsformeln für die Querkrafttragfähigkeit von Stahlbetonbauteilen ohne Querkraftbewehrung werden im Rahmen des AiF-Projektes IGF 21756 N/1 theoretische, experimentelle und numerische Untersuchungen zum Querkrafttragverhalten von Stahlbetonplatten bzw. -plattenstreifen durchgeführt. In zwei Versuchsserien an Stahlbetonplattenstreifen ohne Querkraftbewehrung soll der Einfluss der Belastungsart (Gleichstrecken- statt Einzellast, Serie 1) sowie einer Druckmembranspannung (Serie 2) auf die Querkrafttragfähigkeit untersucht werden. Die Festlegung der Versuchsparameter erfolgt in Anlehnung an das bereits abgeschlossene AiF-Projekt IGF 17732 N/1, um eine Kreuzvergleichbarkeit zu gewährleisten. Insbesondere soll geprüft werden, inwiefern anhand der Schubschlankheit die System- und Belastungssituation zutreffend abgebildet werden können. Dazu wird die Lage des Momentennulldurchgangs über den Einspanngrad am Innenauflager systematisch variiert. Anhand ergänzender numerischer Untersuchungen soll die Größenordnung der sich einstellenden Druckmembranspannungen abgeschätzt und der direkte Lastabtrag bei auflagernahen Lasten näher untersucht werden.
Die experimentellen Untersuchungen der Serie 1 sind bereits abgeschlossen. Insgesamt wurden fünf Versuchskörper hergestellt und in jeweils zwei aufeinanderfolgenden Teilversuchen bis zum Versagen geprüft. Es wurden der Einfluss des statischen Systems, des Einspanngrads bzw. der Lage des Momentennulldurchgangs bei Durchlaufsystemen und der Belastungsart auf das Querkrafttragverhalten untersucht. Ein Versuchskörper wurde zudem doppelt so breit wie die anderen ausgeführt und wies einen kleineren Längsbewehrungsgrad auf. Ein Teil der Längsbewehrung wurde kürzer ausgeführt, um die Auswirkung einer gestaffelten Bewehrung auf das Rissbild und das Tragverhalten zu untersuchen. Es konnte festgestellt werden, dass sich die Lage des versagensmaßgebenden Schubrisses in den Bereich der endenden Zulagebewehrung verschiebt. Die Versuche des bereits abgeschlossenen Vorhabens IGF 17732 N/1 werden für den Vergleich des Einflusses der Belastungsart herangezogen, da in dem aktuellen Projekt keine Versuche mit Einzellast in der ersten Versuchsserie vorgesehen waren. Die Gleichlast wurde über mehrere äquidistante Einzellasten verschmiert betrachtet.
Bild 3: Herstellung und Durchführung der Versuche in Serie 1
Die in den experimentellen Untersuchungen erreichten Querkrafttragfähigkeiten liegen ca. 20‑50 % über den rechnerischen Tragfähigkeiten nach aktuellem Eurocode 2. In zwei Versuchen (SV2-2 und SV3-2 mit einem Einspanngrad von dr = 100 % bzw. dr = 75 %) wurde trotz hoher Belastungen kein Querkraftversagen erreicht.
Der Einfluss eines direkten Lastabtrags bei einer Gleichlastbeanspruchung wurde bislang auf zwei Arten berücksichtigt: Einerseits über die Wahl des Bemessungsschnitts im Abstand 1,0 d von der Auflagervorderkante (dies entspricht den Regelungen des aktuellen Eurocode 2) und andererseits über die Reduktion der auflagernahen Einzellasten (0,5 d < av ≤ 2,0 d) mit dem Faktor β nach Eurocode 2. Im weiteren Projektverlauf wird der Anteil des direkten Lastabtrags weiter untersucht werden und auch in numerischen Untersuchungen vertieft.
Bild 4: Vergleich der experimentellen Querkrafttragfähigkeiten mit den nach aktuellem Eurocode 2 prognostizierten Querkrafttragfähigkeiten
Die aktuellen Untersuchungen ergänzen die experimentellen Untersuchungen des bereits abgeschlossenen AiF-Vorhabens. Der Einfluss der Schubschlankheit auf die Querkrafttragfähigkeit kann anhand der aktuellen Untersuchungen bestätigt werden. Bei Einzellasten ist die Abnahme der Querkrafttragfähigkeit bei steigender Schubschlankheit etwas ausgeprägter als bei Gleichlasten. Der Einfluss eines direkten Lastabtrags wurde in der Darstellung bislang nicht berücksichtigt.
Bild 5: Normierte Querkrafttragfähigkeit in Abhängigkeit der Schubschlankheit
Ausblick
Die Berücksichtigung tragfähigkeitssteigernder Mechanismen in der Querkraftbemessung kann dazu beitragen, Stahlbetonplatten zutreffender bemessen zu können. Im Vergleich zu dem gelenkig gelagerten Einfeldträger, wie er in überwiegender Zahl in der Datenbank zur Validierung der Querkraftbemessungsformeln nach EC 2 vorhanden ist, unterscheidet sich die Belastungs- und Lagerungsbedingung bestehender Deckenplatten. Die daraus resultierenden Tragreserven sollen in verfeinerten Bemessungsmodellen einerseits dazu genutzt werden, ressourcenschonendere Neubauten zu planen und andererseits eine längere Nutzung von Bestandsbauwerken zu ermöglichen.
Dank
Das IGF-Vorhaben 21756 N/1 des Deutschen Beton- und Bautechnikvereins (DBV), Kurfürstenstraße 129, 10785 Berlin, wird über die AiF im Rahmen des Programms zur Förderung der industriellen Gemeinschaft (IGF) vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz aufgrund eines Beschlusses des deutschen Bundestages gefördert.
Bearbeiterin
Annkathrin Sinning, M.Sc.
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Literatur
- Hegger, J.; Adam, V.: Querkrafttragfähigkeit von Stahlbetonplatten ohne Querkraftbewehrung.Bericht des Institutes für Massivbau Nr. 395/2017, (2018). Bericht des Instituts für Massivbau, Aachen.
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Adam, V.: Shear in Reinforced Concrete Structures without Shear Reinforcement – Analysis and Design. Dissertation, RWTH Aachen University, 2021.